Impuls-Vortrag von Heinz-Paul Bonn, Chairman Global IT Forum im Diplomatic Council, auf der CeBIT 2014
Wie man auch immer persönlich zu Markus Lanz stehen mag oder welche individuellen Erfahrungen man bei „Wetten, dass…?“ live oder im Fernsehen gemacht haben mag – das Phänomen, dass 230.000 Menschen an der Anti-Lanz-Petition im Internet teilgenommen haben, ist für mich aus einem ganz besonderen Grund interessant: Die Anti-Lanz-Kampagne ist ein Beispiel für jene zentrale These, die der Systemanalytiker Peter Kruse im Jahr 2010 vor der Internet-Enquete im Deutschen Bundestag formuliert hatte und seit dem mit wachsender Publizität verbreitet: Aus, so sagt, er „enormer Vernetzungsdichte“, verbunden mit „hoher Spontanaktivität der Nutzer“ entwickeln sich „länger kreisende Erregungen“, die schließlich zu Lawinen-Effekten im Netz führen. Das klingt ein bisschen wie Soziologen-Gewäsch, beschreibt aber durchaus prophetisch, was da rund um Markus Lanz passiert ist. Verlaufen diese Erregungen negativ, nennt man es Shit-Storm, sind sie positiv, sagen wir: es ist die Macht des viralen Marketings.
Warum ist das interessant? Weil es jedem passieren kann. Und mehr noch: Weil dieses Phänomen der lange kreisenden Erregung jeder für sich nutzen kann. Im digitalen Leben gibt es keine technische, jedenfalls keine systemtechnische Hürde mehr, berühmt zu werden. Die Grenzen werden allenfalls durch mangelnde Kreativität und Originalität gesetzt. Auf den Mittelstand gemünzt, lautet die Schlussfolgerung: Aufmerksamkeitsdefizite sind damit keine direkte Funktion mehr von Größe oder gar Marktmacht.
Worauf ich hinaus will: Die Digitalisierung des Lebens ist eine gigantische Chance für kleine und mittelständische Unternehmen, für Start-ups ebenso wie für spontane oder etablierte Interessensgruppen. Sie sind in der Lage, innerhalb kürzester Zeit Aufmerksamkeit zu erringen. Es sind nicht nur die Milliardenaufkäufe wie WhatsApp, denen das gelingt. Es sind die rund Tausend Hidden Champions im deutschen Mittelstand, die in ihrem Markt führend sind.
Und das weltweit. Neben der Digitalisierung des Lebens ist die Globalisierung der Märkte die zweite große Option für den Mittelstand. Wir sprechen seit nunmehr zwei Jahrzehnten von der Globalisierung der Märkte, aber erst durch die voranschreitende Digitalisierung der Marktprozesse erreicht sie auch den Mittelstand mit voller Wucht – und voller Brutalität. Wer heute mit einem guten Produkt und einer exzellenten, auf die Digitalisierung unserer Kommunikationsprozesse ausgerichteten Marktstrategie ins Ausland geht, der muss nicht jeden nationalen Markt mit Vertriebsbüros erobern, sondern kann seinen Markt schlagartig ausweiten.
Je stärker die eigene Dienstleistung, das eigene Produkt selbst von der Digitalisierung des Lebens profitiert, umso weniger Barrieren sind auf dem Distributionsweg zu überwinden. Natürlich gilt das uneingeschränkt für einen Dienstleister wie WhatsApp. Es gilt aber auch für technische Produkte wie zum Beispiel Bildverarbeitungssysteme, wie sie – und das ist jetzt nur ein Beispiel für viele Hidden Champions – das Wiesbadener Unternehmen Vitronic anbietet. 80 Prozent der 82 Millionen Euro Jahresumsatz werden im Ausland generiert – mit Systemen, die auf neuester Lasertechnologie basieren und in Radaranlagen und Mautsystemen ebenso eingesetzt werden wie in Hochgeschindigkeits-Sortierzentren von DHL oder anderen Dienstleistern.
Zehn bis 15 Prozent ihres Umsatzes stecken mittelständische Technologieführer in ihre Forschung und Entwicklung. Das ist in realen Zahlen nicht unbedingt viel im Vergleich zu den Forschungsbudgets bei Siemens oder BASF. Aber es wird stärker fokussiert eingesetzt und zielt auf die konkrete Produktverbesserung und Marktanpassung.
Ein weiterer Treiber – und damit eine weitere Option für den Mittelstand – in Richtung Globalisierung ist die Weltmarktposition der Kunden. Sehr deutlich zu sehen ist das am Beispiel der Marktausweitung großer Handelsketten – sowohl im Food- als auch im Non-Food-Sektor. Diese Globalisierung der Kunden treibt auch den Mittelstand in die Anpassung der eigenen Produktpalette an andere Märkte – ohne selbst dort präsent sein zu müssen.
Der Mittelstand kann aber nicht gleichzeitig sowohl agiler kommunizieren (erste Option), Technologieführerschaft ausbauen und marktführende Produkte entwickeln (zweite Option), als auch die Globalisierung seiner Absatzmärkte stemmen (dritte Option), wenn es ihm nicht auch gelingt, die vierte Option, nämlich die Integration seiner Geschäftsprozesse zu vollenden. Hier sehe ich unverändert bei aller Stärke im deutschen Mittelstand einen riesigen Neustrukturierungsbedarf. Der Mittelstand muss seine Planungs- und Steuerungssysteme aus der Enge seines Betriebsgeländes befreien und öffnen für neue Realtime-Analysen.
Industrie 4.0,In einem Impulsvortrag kann ich die vielschichtigen Optionen nur in Stichworten anreißen:
– Option 5: Denken Sie an Konzepte wie Industrie 4.0, also die Digitalisierung der Fertigungsprozesse, in denen Maschinen und Waren über eigene IP-Adressen, Herkunft, Zustand und Bestimmungsort kommunizieren. Das ist natürlich eine große technische Herausforderung, aber es ist vor allem eine Herausforderung im Rahmen der Geschäftsprozessoptimierung. Aus Lösungssicht muss es die Aufgabe sein, die Planungs- und Steuerungssysteme in die Lage zu versetzen, mit dieser neuen Datenquelle umzugehen.
– Option 6: Denken Sie an die eingangs zitierten Lawinen-Effekte, die sich vor allem in sozialen Netzwerken ergießen können. Heutige Marketing- oder Kampagnen-Planungen erfolgen meist noch völlig abgekoppelt von diesem Kommunikationskanal, der schon jetzt ein entscheidendes Medium für Kundenfeedback ist. Aber unsere Planungssysteme sind noch kaum in der Lage, die semantischen Herausforderungen zu meistern, die mit diesen unstrukturierten Daten auftreten.
– Option 7: Denken Sie an die zunehmende Mobilität der Kunden und Mitarbeiter, die nicht nur eine ständige Erreichbarkeit ermöglicht, sondern auch eine ständige Bereitschaft zum Feedback. In einem globalisierten Web gibt es keinen Feierabend. Wir aber planen immer noch von 9 bis 17 Uhr. Unsere Planungssysteme müssen deshalb reaktionsfreudiger werden.
Dies sind Beispiele dafür, dass der Mittelstand seine Geschäftsprozesse derart neu aufstellen und integrieren muss, dass er in der Lage ist, große und bislang völlig ungenutzte Datenquellen in seine Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. Big Data Analytics oder Datability ist das zentrale Motto auf dieser CeBIT und es hieße Eulen nach Athen zu tragen, jetzt hier das Loblied auf die Fähigkeit zur Analyse großer Datenmengen zu singen.
Ich möchte deshalb nur einen Aspekt herausgreifen. Das Schlagwort Big Data lässt wiederum Größe, Globalisierung, ja Gigantismus assoziieren. Es ist aber gerade deshalb für den Mittelstand eine ganz wichtige Option – die achte in meiner Aufzählung -, weil daraus die Liebe zum Detail, die Genauigkeit der Entscheidungsfindung, die Reaktionsschnelligkeit im Handeln genährt wird. Big Data ist nicht notwendigerweise Number Crunching, sondern ist eine mittelständische Tugend. Nur: Was der mittelständische Unternehmen jahrzehntelang aus dem Bauch heraus mit großem Erfolg entschieden hat, sollte er künftig angesichts zunehmender Komplexität aus der Datencloud heraus entscheiden.
Mir scheint auch im Vorfeld der CeBIT die Diskussion allerdings eher so zu laufen, dass Big Data ein Thema im Mittelstand ist, das man angeht, wenn alle anderen Probleme gelöst sind. Ich sehe diese achte Option hingegen als Grundvoraussetzung. Der Mittelstand muss damit beginnen. Und er kann sich auf dieser CeBIT optimal über seine Optionen informieren.